Das habe ich so nicht geplant

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Mein Ziel dieser Reise ist es, Entschleunigung zu finden, ohne etwas an meinem bisherigen Leben ändern zu müssen. Ich habe einen guten Job, fühle mich wohl, dort, wo ich lebe und habe alle meine Freunde um mich herum. Ich würde sagen, ich bin recht zufrieden mit meinem Leben. Ich suche lediglich nach einer Lösung, die ich in meinen normalen Arbeitsalltag integrieren kann. Nun ist jedoch etwas passiert, dass ich so nicht geplant habe.

Erstmals auf meiner Tour bin ich über mehrere Tage in der Stadt, in einem normalen Bett, habe Wlan, Netflix, eine Dusche und Strom wann immer ich will (nicht nur wenn die Sonne scheint)! Wider Erwarten habe ich bisher weder das Bett, noch die Möglichkeit mit 120 Mbit/s zu downloaden, vermisst. Gefreut habe ich mich aber natürlich trotzdem darauf, die Freunde wieder zu treffen und am Abend unterwegs zu sein. Mal eben kurz während der Tour in meinen normalen Alltag zu tauchen.

Doch ich muss feststellen, dass es mich gerade überfordert. Ich fühle mich, als hätte ich einen Schritt rausgemacht aus diesem Leben und betrachte es nun aus einer anderen Perspektive. Ich laufe durch die Schanze, sehe all die jungen Leute mit ihren asymmetrischen Frisuren, die miteinander trinken und quatschen. Ein Rennranfahrendes Pärchen schwebt händchenhaltend an mir vorbei. Ihr blondes, seidenglattes Haar wird genau im richtigen Winkel von der Sonne beleuchtet. Ich fühle mich, als wäre ich in einer Welt aus gettyimages Models und denke, ich hätte mich ja auch mal ordentlich kämmen können heute früh. Davon abgesehen würde ich dank meiner beiden ehemals gebrochenen Handgelenke (Snowboarden ist nicht mein Ding) niemals besonders errotisch auf einem Rennrad sitzen können. Ich werde von einer Frau mit Yogamatte am Rucksack überholt und mir fällt ein, dass auch ich noch eine 10er Karte habe, wovon ich max. 3 Stunden genutzt habe. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen und denke mir, nur weil alle Yoga machen, muss ich das wohl nicht auch noch. Mit meinem Hexenschuss komme ich da eh nicht weit.

In der Nacht sitze ich vorm TV und höre ein paar junge Männer vor der Wohnungstür. Offensichtlich beim Drogen konsumieren. Ich habe lange Zeit auf dem Kiez gewohnt, das gehört eben dazu und hat mir eigentlich auch nie etwas ausgemacht. Gerade finde ich es grotesk, dass sich vor meiner Wohnwagentür letzte Woche noch Alpakas aufgehalten haben und jetzt stehen dort junge Menschen, die immerzu den Bewegungsmelder anmachen, damit sie die Vene treffen.

Klar, das ist Hamburg. Das ist der Kiez. In Frankfurt läuft das ähnlich. Und es ist sicher nicht überall und in jeder Stadt so. Aber ist es nicht so, dass man eigentlich immer etwas zu tun hat? Sich immerzu ablenkt? Denn man hat ja so viele Möglichkeiten und ist eigentlich nur noch damit beschäftigt, die richtige Entscheidung zu treffen. Das fängt im REWE an. Wenn ich dort Nudeln kaufe, muss ich mich nicht zwischen Spagetthi und Spirelli entscheiden, sondern zwischen Vollkorn-, Eier-, Hartweizennudeln, danach zwischen einer von 30 verschiedenen Nudelsorten und schließlich ob groß, mittel oder klein. Ganz wichtig auch, fair trade. Als Grafiker kommt dann da noch das Verpackungsdesign dazu, aber das ist ein anderer Tick. Man hat immerzu das Gefühl, vielleicht nicht die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Ohne das es mir aufgefallen ist, hatte ich dieses Gefühl in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr. Und ich habe es auch nicht vermisst. Gerade fühle ich mich etwas fehl am Platz und freue mich, morgen wieder weiter fahren zu können.

Wenn meine Mutter das jetzt liest, sieht sie mich wahrscheinlich schon nächste Woche nach Bindsachsen ziehen. Mama, ich muss dich enttäuschen, das wird keinesfalls passieren! Ich ziehe maximal vom Hipster-Nordend ins Rentner-Westend, oder so.

Discussion2 Kommentare

  1. Die Nudelauswahl. Sogar beim Salz und beim Zucker kann man Fehler machen! Genau das, was mich auch momentan beschäftigt.
    Ich lege mich immer mehr auf Sachen fest um von einem kleinen Einkaufstrip nicht verzweifelt und überfordert nach Hause zu kommen. Benutze z.B. seit Jahren die selbe Zahnpasta. Das erspart mir immer paar Minuten vor dem Zahnpastaregal (ach was Regal – Zahnpasta GANG).
    „Etwas neues ausprobieren“ empfinde ich beim einkaufen eher als Belastung.
    Die eigene Entscheidungsfreiheit eingrenzen finde ich super.
    Man sollte seine Zeit nicht damit verschwenden, sich darüber Gedanken zu machen, welches Salz man warum kauft.

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